„Die Revolution kommt in 50 Jahren“
Für Physiknobelpreisträger Anthony Leggett ist die Quantenmechanik nicht die ganze Wahrheit. Er glaubt, dass sie irgendwann von einer umfassenderen Theorie ersetzt wird, wie er in einem Interview verrät. Darin erzählt Leggett von Theorie-Exoten, Schrödingers Katze und ihren Verwandten aus dem Labor.
SCHRÖDINGERS KATZE18.03.2011
science.ORF.at: 1935 hat Erwin Schrödinger ein bis heute diskutiertes Gedankenexperiment mit einer Katze entworfen. Die Katze verhält sich, als lebte sie in der Quantenwelt. Sie ist weder tot noch lebendig, sondern gewissermaßen beides. Warum ist so ein Verhalten für ein Elektron völlig normal, für eine Katze aber offenkundig absurd?
Anthony Leggett : Eigentlich ist es sehr einfach: Katzen gehören zu den Dingen, die wir im täglichen Leben wahrnehmen können. Und es wurden eben noch nie Katzen beobachtet, die sich in so einer Überlagerung befinden. Wir Physiker nennen diesen Zustand Superposition.
Beobachtet wurde das noch nie – aber wäre es im Prinzip möglich?
Wenn man die Quantentheorie wirklich ernst nimmt, dann müssen auch Katzen in solchen Zuständen möglich sein. Also gibt es einen Widerspruch zwischen unserer Erfahrung und den Formeln der Quantentheorie.
Wie lässt sich dieses Problem lösen?
Zur Person
Anthony Leggett wurde in London geboren und forscht an der University of Illinois, Urbana. Er wurde 2003 für seine Pionierarbeiten im Bereich der Suprafluidität mit dem Physik-Nobelpreisausgezeichnet. Forschungsgebiete: Supraleitung, Grundlagen der Quantenmechanik, Quantengase.
Am 18.3. hält Leggett an der Universität Wien im Rahmen der „Erwin Schrödinger Distinguished Lecture Series“ einen Fachvortrag, Titel: „Schroedinger’s Cat and her laboratory cousins“.
Nun, zuerst muss man sich die Frage stellen: Ist die Quantenmechanik eine vollständige Beschreibung der physikalischen Welt? Nehmen wir einmal an, die Antwort lautet ja. Dann gibt es eine Lösung, die ich als konservativ bezeichnen würde. Das ist die sogenannte Kopenhagener Interpretation der Quantenmechanik, die nebst anderen von Niels Bohr und Werner Heisenberg entwickelt wurde.
Wenn man diesen Ansatz verfolgt, kommt man zu der Aussage: Die Formeln der Quantenmechanik sind keine Beschreibung der Welt, sie sind nur Regeln, um etwas zu berechnen. Die Quantentheorie ist ein Rezept, ein Rechenschema, mehr nicht.
Ein Problem der Kopenhagener Interpretation ist: Sie nimmt an, dass es eine Grenze zwischen der Quantenwelt und der Alltagswelt gibt. Sonst könnte sie nicht erklären, dass es keine „lebendigtoten“ Katzen gibt. Nur sagt die Theorie nichts über solch eine Grenze.
Das stimmt. Man könnte aber konsequenterweise sagen: Die Frage der Grenzziehung stellt sich gar nicht, weil wir nur über die Messungen reden, die uns zugänglich sind. Und die gehören definitionsgemäß zur Alltagswelt. Was zwischen dem Experiment und der Messung steht, ist diesem Standpunkt gemäß gar kein Thema. Man interpretiert die Symbole nicht, sondern rechnet. So vermeidet man zwar Widersprüche, aber man kann auch keine Fragen mehr stellen. Viele finden das nicht befriedigend – ich übrigens auch.
Es ist auch wenig glaubhaft, dass Physiker nur Physik treiben, um Dinge zu berechnen. Letztlich wollen sie doch auch etwas über die Natur herausfinden.
Das ist der psychologische Aspekt des Problems: Wenn man Jahre damit verbringt, die Formeln der Quantentheorie richtig auf Experimente anzuwenden und dann hat das Ganze erst recht nichts mit der Welt zu tun – das ist doch deprimierend, oder? Aber viele jüngere Kollegen antworten mir: Der einzige Grund, warum uns das Schwierigkeiten bereitet, ist, dass wir in der Schule nur klassische Physik lernen. Würde die Quantentheorie schon in der Grundschule gelehrt, dann wäre dieser Standpunkt ganz natürlich.
Gibt es noch eine andere Lösung für dieses Problem?
Ö1-Sendungshinweis
Mit diesem Thema beschäftigt sich auch ein Beitrag im „Dimensionen-Magazin“, 18.3., 19.06 Uhr
Wenn man der Meinung ist, dass die Quantenmechanik die ganze Wahrheit ist, dann kann man auch die Gegenrichtung einschlagen. Dieser Ansatz wurde als Viele-Welten-Theorie bekannt. Er besagt: Man muss die Formeln der Quantentheorie todernst nehmen. Demnach befinden sich Katzen tatsächlich in einer Überlagerung zwischen tot und lebendig.
Wenn wir eine lebendige Katze beobachten, müssen wir uns fragen: Was ist mit jenen Formeln passiert, die die Katze als tot beschreiben? Sind sie einfach verschwunden? Die Viele-Welten-Theorie sagt: Nein, die tote Katze existiert ebenso. Unsere Welt besteht demnach aus einer ungeheuer großen Zahl von Parallelwelten, die alle gleich real sind. Und wir befinden uns zufällig in einem Zweig dieses Multiversums, in dem die Katze lebendig ist. Ich kann das allerdings nicht wirklich ernst nehmen.
Wie sieht ihre Lösung aus?
Es gibt einen Standpunkt, der dem meinem schon näher kommt. Er geht immer noch davon aus, dass die Quantentheorie die Welt vollständig beschreibt. Das ist die sogenannte Dekohärenztheorie. Ihr zufolge ist die Wechselwirkung zwischen Quantenobjekten und ihrer Umwelt dafür verantwortlich, dass sich erstere von ihren Überlagerungszustand verabschieden und entweder dies oder das sind – aber nicht beides zugleich.
Die Dekohärenztheorie sagt voraus, dass Katzen keine Überlagerungszustände aufweisen – so wie wir es auch im Alltag beobachten. Die Formeln stimmen meiner Meinung nach, nur glaube ich, dass man sie auch anders interpretieren kann.
Und zwar?
Man kann die Annahme, dass die Quantentheorie die ganze Wahrheit ist, ablehnen. Vielleicht gibt es noch ganz andere physikalische Gesetze, die zwischen der Elektronen- und Katzendimension ins Spiel kommen. Das ist eine Möglichkeit, die eine kleine Minderheit der Physikergemeinde sehr ernst nimmt. Ich zähle mich dazu.
Welche Theorie könnte die Quantentheorie ersetzen?
Das wissen wir nicht. Wenn meine Vermutung richtig ist, dann wird sich in den nächsten, sagen wir: 50 bis 200 Jahren eine Revolution in der Physik ereignen. Aber es gibt jetzt schon Erweiterungen der Quantenmechanik, die in diese Richtung gehen. Eine davon ist die Ghirardi-Rimini-Weber-Pearle-Theorie, die wir auch mit den gegenwärtigen experimentellen Möglichkeiten überprüfen können.
Was besagt die GRWP-Theorie?
Vereinfacht gesprochen: Sie postuliert ein Hintergrundrauschen im Universum. Die Wechselwirkung mit diesem Feld erzeugt die üblichen Quanteneffekte – aber sie erzeugt noch etwas anderes: Dieser Effekt bewirkt, dass sich Quantenüberlagerungen mit der Zeit für eine der vorhandenen Möglichkeiten entscheiden müssen. Und die Geschwindigkeit dieser, um einen anderen Begriff dafür zu verwenden, „Realisierung“ hängt davon ab, wie viele verschiedene Teilchen daran beteiligt sind.
Bei einem einzelnen Photon läuft die Realisierung sehr langsam ab. Deswegen können wir sogar bei Photonen, die von einem weit entfernten Quasar stammen, noch immer Interferenzmuster messen. Bei einer Katze, die aus sehr viel mehr Teilchen besteht, läuft dieser Prozess so schnell ab, dass ihn das menschliche Bewusstsein gar nicht wahrnehmen kann.
Von welchen Teilchen wird das Hintergrundrauschen verursacht?
Das ist zunächst nur eine Annahme. Die Theorie beantwortet diese Frage nicht.
Aber das könnte der Weg zum, um mit Einstein zu sprechen, „wahren Jakob“ sein?
Ich bin mir nicht sicher, dass sie am Ende des Tages die richtige Theorie sein wird. Aber sie weist in die richtige Richtung. Mein Bauchgefühl sagt mir: Sie ist nicht radikal genug. Wenn die nächste Revolution in der Physik kommt, wird sie noch weiter vom gesunden Menschenverstand entfernt sein.
Sie werden heute Abend an der Universität Wien einen Vortrag über Schrödingers Katze und ihre Verwandtschaft aus dem Labor halten. Haben sie ein Lieblingsmitglied aus diesem Verwandtschaftskreis?
Dazu muss ich sagen: Als einige Kollegen und ich in den 80er Jahren behauptet haben, dass man Versuche durchführen könnte, die für das Schrödinger’sche Gedankenexperiment relevant sind, wurden wir sehr hart kritisiert. Damals herrschte eben noch das Dogma: Quantenzustände werden nie bei makroskopischen Objekten beobachtbar sein.
Und nun kann man sie beobachten.
Genau. Mein Lieblingsbeispiel ist ein supraleitender Ring, „Flux Qubit“ genannt, der durch ein kleines Tor unterbrochen wird, durch das Elektronen wandern können. Im einfachsten Fall kennt das System zwei Zustände: Entweder fließt der Strom im Uhrzeigersinn oder gegen den Uhrzeigersinn. Und es gibt Messungen, die zeigen, dass hier eine Überlagerung auftritt.
Das heißt, es wurde bewiesen, dass der Strom gleichzeitig in beide Richtungen fließt?
Drücken wir es vorsichtiger aus: Die Experimente legen nahe, dass das die richtige Deutung ist. Genau genommen kann man ja eine Theorie nie beweisen. Markus Aspelmeyer, der hier am Wiener Physik-Institut forscht, arbeitet gerade an einem Experiment, das, sofern es funktioniert, auch extrem schön wird: ein Metallpartikel, das sich gleichzeitig an zwei Orten befindet.
Niels Bohr hat einmal gesagt: „Wenn man nicht über die Quantentheorie entsetzt ist, kann man sie unmöglich verstanden haben.“ Gilt das immer noch?
Absolut. Ich war kürzlich auf einem Kongress zum Thema „Das Konzept der Realität in der Physik“. Der fünfte Redner beendete seinen Vortrag mit der Bemerkung: „Es ist schon erstaunlich, dass nun fünf Leute gesprochen haben und völlig unterschiedliche Meinungen vertreten – wir können uns nicht einmal über die grundlegenden Dinge einigen!“
Interview: Robert Czepel
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